Des fremden Kindes heiliger Christ
Es läuft ein fremdes Kind
am Abend vor Weihnachten
durch eine Stadt geschwind,
die Lichter zu betrachten,
die angezündet sind.
*
Es steht vor jedem Haus
und sieht die hellen Räume,
die drinnen schaun heraus,
die lampenvollen Bäume;
weh wird’s ihm überaus.
*
Das Kindlein weint und spricht:
"Ein jedes Kind hat heute
ein Bäumchen und ein Licht,
und hat daran seine Freude,
nur bloß ich armes nicht!
*
"An der Geschwister Hand,
als ich daheim gesessen,
hat es mir auch gebrannt;
doch hier bin ich vergessen
in diesem fremden Land.
*
"Läßt mich denn niemand ein
und gönnt mir auch ein Fleckchen?
In all’ den Häuserreih’n,
ist denn für mich kein Eckchen,
und wär’ es noch so klein?
*
"Läßt mich denn niemand ein?
Ich will ja selbst nichts haben,
ich will ja nur am Schein
der fremden Weihnachtsgaben
mich laben ganz allein!"
*
Es klopft an Tür und Tor,
an Fenster und an Laden,
doch niemand tritt hervor,
das Kindlein einzuladen;
sie haben drin’ kein Ohr.
*
Ein jeder Vater lenkt
den Sinn auf seine Kinder;
die Mutter sie beschenkt,
denkt sonst nichts mehr noch minder.
Ans Kindlein niemand denkt.
*
"O lieber, heil’ger Christ!
Nicht Mutter und nicht Vater
hab ich, wenn du’s nicht bist.
O sei du mein Berater,
weil man mich hier vergißt!"
*
Das Kindlein reibt die Hand,
sie ist von Frost erstarret;
es kriecht in sein Gewand
und in dem Gäßlein harret,
den Blick hinaus gewandt.
*
Da kommt mit einem Licht
durchs Gäßlein hergewallet,
im weißen Kleide schlicht,
ein ander Kind; - wie schallet
es lieblich, da es spricht:
*
"Ich bin der heil’ge Christ,
war auch ein Kind vordessen,
wie du ein Kindlein bist.
Ich will dich nicht vergessen,
wenn alles dich vergißt;
*
Ich bin mit meinem Worte
bei allen gleichermaßen;
ich biete meinen Hort
so gut hier auf den Straßen,
wie in den Zimmern dort.
*
Ich will dir deinen Baum,
fremd’ Kind, hier lassen schimmern
auf diesem offnen Raum
so schön, daß die in Zimmern
so schön sein sollen kaum."
*
Da deutet mit der Hand
Christkindlein auf zum Himmel,
und droben leuchtend stand
ein Baum voll Sterngewimmel
vielfältig aufgespannt.
*
So fern und doch so nah,
wie funkelten die Kerzen!
Wie ward dem Kindlein da,
dem fremden, still zu Herzen,
das seinen Christbaum sah!
*
Es ward ihm wie im Traum;
da langten hergebogen
Englein herab vom Baum
zum Kindlein, das sie zogen
hinauf zum Lichten Raum.
*
Das fremde Kindlein ist
zur Heimat nun gekehret
bei seinem heil’gen Christ;
und was hier wird bescheret,
es dorten leicht vergißt.
Friedrich Rückert 1788 - 1866